Die Spielphase bei Jungtieren ist eine wichtige Sozialisationsphase. Aus ihrer Dauer leitet sich das richtige Vermittlungsalter von Ratten ab.
Die Jungtiere der meisten Spezies durchlaufen bestimmte zeitliche Perioden, während derer bestimmte soziale Stimulationen notwendig für die nachfolgende Entwicklung sind. Vor allem in der Zeit nach der Entwöhnung, in der die Jungtiere mehr und mehr Zeit abseits der Mutter und mehr mit ihren Geschwistern verbringen, sind Ratten ungewöhnlich empfänglich für äußerliche Einflüsse und Störungen (Hol et al 1999, S.91 und Vanderschuren et al 1995, S. 122).
Es hat sich gezeigt, dass das Alter zwischen 21 und 55 Tagen wichtig für die normale Entwicklung des späteren Sozialverhaltens bei erwachsenen Ratten ist (Meaney, Stewart 1981, S. 34). Spielen bzw. Spielkämpfe sind nicht allein ausschlaggebend für eine gesunde Sozialisierung, sondern vielmehr ein wichtiger Bestandteil eines Verhaltenskomplexes, wozu alle Verhaltensweisen mit den Geschwistern gehören (gegenseitiges Putzen, gemeinsame Nahrungsaufnahme und Erkundungsverhalten sowie das Liegen in Kuschelgruppen) (vgl. hierzu auch Bekoff 1976)). Das auffällig starke Ansteigen des Spielverhaltens bei jungen Ratten und das nachfolgende Absinken (siehe Artikel „Spielverhalten von Ratten“) zeigt jedoch deutlich, dass es sich in dieser Zeit um eine sensible Phase in der Entwicklung der Tiere handelt, die möglichst ungestört verlaufen sollte. Eine Trennung der Geschlechter mit 4,5 Wochen liegt mitten in dieser sensiblen Phase, ist jedoch dringend notwendig. Danach sollten die Tiere jedoch bis zur 9. Lebenswoche ungestört im gleichgeschlechtlichen Geschwisterverband verbleiben, und erst danach vermittelt werden.
Es ist wichtig, dass Jungtiere möglichst viele gleichaltrige Geschwister um sich haben, weil sich ein im Rudel lebendes Individuum nur in Abhängigkeit möglichst vieler Charaktere und deren Handlungen artgemäß entwickeln kann. Das Aufwachsen mit nur einem Partner führt zu Fehlprägungen und einseitiger Entwicklung des Einzelnen (Entsozialisierung).
Natürlich kann man die Anzahl gleichgeschlechtlicher Tiere eines Wurfes nicht beeinflussen. Sollte die Anzahl aber eine Größe erreichen bei der die Tiere für eine Vermittlung aufgeteilt werden (können oder müssen), sollten sie bis zur 9. Lebenswoche gemeinsam aufwachsen, bevor sie getrennt werden und in eine neue Umgebung kommen. Das ist bei einer gleichgeschlechtlichen Geschwistergruppe von mehr als 3 Tieren der Fall.
Quellen: Bekoff, Marc; Pierce, Jessica (2011): Vom Mitgefühl der Tiere. Verliebte Eisären, gerechte Wölfe und trauernde Elefanten. 1. Aufl. Stuttgart: Kosmos.
Hol, T.; van den Berg, C. L.; van Ree, J. M.; Spruijt, B. M. (1999): Isolation during the play period in infancy decreases adult social interactions in rats. In: Behavioural Brain Research 100 (1-2), S. 91-7.
Meaney, Michael J.; Stewart, Jane (1981): A descriptive study of social development in the rat (Rattus norvegicus). In: Animal Behaviour 29 (1), S. 34-45.
Vanderschuren, Louk J. M.; Niesink, Raymond J. M.; Spruijt, Berry M.; Van Ree, Jan M. (1995): Influence of environmental factors on social play behavior of juvenile rats. In: Physiology & Behavior 58 (1), S. 119-123.
Spielverhalten bei Tieren kann zwei Kategorien zugeordnet werden. Dem Spielen mit sich selbst, zu dem auch das Spiel mit Gegenständen gehört, oder dem sozialen Spiel. Ob Ratten allein spielen bzw. mit Objekten, lässt sich schwer feststellen. Das berühmte Spiel mit der Katzenangel, der die meisten Ratten so gerne hinterherhetzen, lässt nicht erkennen, ob die Tiere den Gegenstand als ernsthafte Möglichkeit zur Jagd und anschließender Nahrungsaufnahme betrachten, oder ihn als "sinnlos" und aus reinem Spaß am Spiel wahrnehmen. Letzteres halte ich aufgrund ihrer scharfen Sinne für durchaus möglich - immerhin sollten sie riechen und aus der Erfahrung mit dem Gegenstand gelernt haben, dass die Katzenangel keine Nahrung verspricht. Dennoch soll es hier nicht um das (auf jeden Fall seltene) Objektspiel bei Ratten gehen.
Spiel wird definiert als "lustbetontes Ausprobieren motivierten Verhaltens ohne den dafür typischen Ernstbezug." (Gattermann 2006, S.302). Durch den fehlenden Ernstbezug unterscheidet sich Spiel auch klar von Erkundungsverhalten, welches manchmal fälschlicherweise mit Spiel in Zusammenhang gebracht wird. Erkundungsverhalten ist aber vielmehr das ernste Gegenteil von Spiel, bei dem es zudem auch keine übertriebenen Verhaltensweisen gibt und keinen Kontrollverlust über die eigenen Bewegungen, die weitere Merkmale von Spielverhalten darstellen (mehr zu den konzeptionellen Unterschieden von Spiel- und Erkundungsverhalten siehe Spinka et al 2001, S.144).
Das soziale, also gemeinschaftliche Spiel bei Ratten besteht aus vielen unterschiedlichen Verhaltenselementen. Es sind sexuelle Verhaltensmuster wie das Aufreiten erkennbar oder Jagd- und Fluchtverhalten - alles in abgewandelter oder übertriebener Ausprägung.
Am Häufigsten lässt sich soziales Spiel in Form von Spielkämpfen beobachten. Spielkämpfe bestehen ebenso wie echte Kämpfe aus Angriff und Verteidigung. In der Regel werden die Spielkämpfe durch wilde Luftsprünge Richtung Nackenbereich des Spielpartners eingeleitet, was als Spielaufforderung angesehen werden kann (Meaney, Stewart 1981, S.35). Die "Angreifer" beißen jedoch selten in den Nacken, wenn dann nur leicht. Analysen von Spielkämpfen bei Jungtieren haben gezeigt, dass die überwiegenden Nackenkontakte darin bestehen, den "Gegner" mit der Unterseite der Schnauze im Nacken lediglich zu berühren. Manchmal werden diese Berührungen mit fahrigen Schnauzenbewegungen durch das Fell verstärkt (Pellis, Pellis 1987, S. 231).
PANKSEPP et al haben herausgefunden, dass der Nackenbereich bei jungen Ratten "kitzlig" ist, bei dessen Berührung im Rahmen von Balgereien die Ratten Zwitscherlaute im für uns nicht hörbaren Bereich von 50kHz erzeugen. PANKSEPP hat dies medienwirksam als "Lachen" bezeichnet und wurde dafür bei Rattenhaltern in der ganzen Welt berühmt. Diese Kitzligkeit im Nackenbereich nimmt jedoch mit dem Alter der Tiere wieder ab (Panksepp 2003, S.537).
Alle zu beobachtenden Bewegungen während eines Spielkampfes folgen der Angriffs- und Verteidigungsstrategie, den Nacken zu berühren und diese Berührung zu verhindern bzw. abzuwehren (Pellis et al, 1997, S.106 und siehe Abbildung).
Gewinner einer Spielrunde ist die Ratte, die den Gegner erfolgreich kurz auf den Rücken fixieren kann (sog. "pinning").
Spielkämpfe werden von Männchen häufiger ausgeführt, als von Weibchen. Weibchen lassen sich auch weniger auf Anspielversuche ein, wenn sie von Weibchen ausgeführt werden. Weibchen können zudem früher auf kommende Nackenattacken reagieren, als Männchen. Das mag daran liegen, dass Weibchen in einigen Bereichen bessere sensorische Fähigkeiten haben, vor allem was das Sehen und den Tastsinn betrifft. Das erlaubt ihnen, früher zu reagieren (Pellis et al, 1997, S.110).
Die Spielkämpfe beginnen bei Ratten etwa in einem Alter von 18-19 Tagen, also kurz vor der Entwöhnung von der Mutter, und erreichen die höchste Häufigkeit zwischen dem 30. und 40. Tag. Danach sinkt die Spielhäufigkeit sukzessive (Baenninger 1967, S.319; siehe auch Abbildung 2).
Auch erwachsene Ratten führen noch Spielkämpfe aus, jedoch sehr viel seltener (Pellis et al, 1997, S.106).
Meine eindrücklichste Beobachtung war bei einer Vergesellschaftung zweier Pflege-Böckchen, die bereits ca. 1,5 Jahre alt waren. Am zweiten Tag der Integrationstreffen fingen sie an miteinander zu spielen. Durch diesen freundschaftlichen Umgang konnten sie den jeweils anderen auf entspannte Weise kennenlernen, seine Kräfte und Absichten einschätzen und so ihr zukÃünftiges Verhältnis ohne Verletzungsrisiken regeln. Und tatsächlich nutzen erwachsenen Ratten den Spielkampf genau dafür. Die Professorin Kelly Lambert hat dies treffend als Diplomatie bei Ratten bezeichnet (Lambert 2011, S. 111 ff.).
Solche spielerischen Kontakte im Erwachsenenalter stellen vor allem für rangniedere Tiere eine Möglichkeit dar, mit der dominanten Ratte im Rudel ein enges freundschaftliches Verhältnis aufzubauen bzw. zu halten. In freier Natur profitieren solche Tiere vermutlich durch die damit entstehende Nähe zum Alpha-Tier, indem sie besseren Zugang zu Nahrung und Weibchen erhalten (Pellis et al 1993, S. 390ff).
Für Anfänger in der Rattenhaltung ist es oft schwer, Spiel von Ernst zu unterscheiden. Häufig wird allein aufgrund des Alters darauf geschlossen, dass es sich bei einer Prügelei um Spielverhalten handelt. Andere wiederum erkennen Rudelprobleme zu spät, weil sie die ernsthafte Prügelei viel zu lange als Spielkampf fehldeuten und dadurch viel zu spät reagieren.
Das Alter allein ist ein unsicheres Merkmal für die Einschäzung von Spielverhalten, vor allem, wenn die Tiere älter werden. Es gibt bessere und eindeutigere Indikatoren, anhand derer man Spielkampf von echtem Kampf unterscheiden kann (siehe nachfolgende Tabelle).
Merkmal | Spielkampf | echter Kampf |
Wechselseitigkeit |
besiegte Tiere kehren zum Spiel zurück; Sieger und Verlierer wechseln sich ab (Wechselseitigkeit) | besiegte Tiere flüchten; keine Wechselseitigkeit, d.h. Sieger und Verlierger wechseln sich nicht ab |
Angriffsziel | Nacken | hinterer Rückenbereich |
Haare | glatt anliegend | gesträubt |
Beißen | kaum echtes Beißen; überwiegend Berührung und Reiben mit der Schnauze | richtiges Beißen |
Laute | ~50kHz (Zwitscherlaute, nicht hörber) | 20kHz-Distress-Rufe (an der menschl. Hörgrenze) |
Der beste Hinweis auf einen Spielkampf ist, dass Sieger und Verlierer sich abwechseln. Besiegte Tiere kehren nach einer verlorenen Spielrunde aktiv zum Spiel zurück und es ist wahrscheinlich, dass sie in der nächsten Spielrunde die Gewinner sind (Meaney, Stewart 1981, S.36). Als zweiter wichtiger Hinweis gilt das Angriffsziel. Während ernsthafte Angriffe auf den hinteren Rückenbereich zielen, ist es bei Spielkämpfen der Nackenbereich. Damit wird übrigens auch deutlich, dass mit dem Spielkampf keinen Kämpfe im Erwachsenenalter trainiert werden sollen und können, da die Abwehrstrategien beim Spielkampf aufgrund des anderen Angriffszieles ganz andere sind, als beim echten Kampf.
Auch das Aufstellen von Haaren ist ein gutes Merkmal dafür, dass die Situation ernst ist. Die Merkmale Beißen oder Laute sind eher unsicher, weil man sie als Mensch überwiegend nicht wahrnehmen kann.
Prägt man sich die deutlichen Merkmale ein, kann man auch oft Verhaltensweisen beobachten, die sowohl Spaß- als auch echte Kampfelemente enthalten. Das geschieht vor allem, wenn die Tiere älter werden und die Spielhäufigkeit abnimmt. Missverstandene Spielaufforderungen (Nackensprünge) oder schlicht Unlust kann dazu führen, dass ein lieb gemeinter Anspielversuch in einem echten Kampf endet.
Spielen macht Spaß und die Entwicklung dieses Belohnungssystems zeigt, dass es einen hohen Wert in der Evolution und damit für die Tiere hat. Es handelt sich um eine eigenständige Verhaltensweise und ist keine Übung für echte Kämpfe, Jagdverhalten oder Sex (Vanderschuren et al 1997, S. 309f). Es wirkt sich positiv auf die körperlichen, geistigen und sozialen Fähigkeiten aus und ist damit ein ebenso vielfältiger wie wichtiger Bestandteil im Verhaltensspektrum eines Tieres.
Spielen unterstützt das Wachstum des Gehirns. So steigt bei Ratten während des Spiels der Gehalt eines Proteins, welches eine wichtige Rolle für die Stimulation und das Wachstum der Nervenzellen hat (Bekoff 2011, S. 172). Gleichzeitig lernen Ratten beim Spiel auch, mit der emotionalen Seite vor allem von Niederlagen zurecht zu kommen. Das kann später im Kontakt mit Artgenossen mögliche emotionale Überreaktionen verhindern, die Stress bedeuten, welcher wiederum negative Auswirkungen auf das Immunsystem haben kann (Spinka et al 2001, S.143).
Auf der körperlichen Seite werden durch das Spiel schlicht Bewegungsabläufe geübt. Die Tiere lernen, wie sie ihr Verhalten verbessern, indem sie herkömmliche Bewegungen mit untypischen Bewegungen kombinieren, um sich anschließend wieder selbst in eine Standardposition zu bringen (Spinka et al 2001, S.143).
Und nicht zuletzt ist das Spiel wichtig für die Sozialisierung der Tiere. Auch wenn Sieg und Niederlage bei Spielkämpfen relativ ausgeglichen sind, kann sich durch das Spiel eine Rangordnung entwickeln. Soziales Spiel ermöglicht es den jungen Tieren, ihren Platz in der Gruppe zu finden (Panksepp 1981, S.330). Gleichzeitig lernen sie Regeln des Umgangs miteinander. Denn jedes Spiel hat Regeln - auch bei Ratten. Wer zu heftig spielt und dem Partner möglicherweise weh tut oder zu oft gewinnt, geht das Risiko ein, dass der Spielpartner die Lust am Spielen verliert. Um das gemeinsame Spielen aufrecht zu erhalten, müssen die Tiere darauf achten, in ihren zum Teil recht grob aussehenden Balgereien nicht zu weit zu gehen. Tatsächlich ist es so, dass sich Ratten während des Spiels permanent beobachten und abschätzen und ihr eigenes Verhalten anpassen, um die Spielstimmung zu erhalten. Auch bei Ratten sind also Fairness und Vertrauen wichtig bei der Dynamik von spielerischer Interaktion (Bekoff 2011, S.180).
Auf eine Besonderheit des sozialen Spiels bei Ratten bin ich noch nicht eingegangen - dem Spiel mit dem Menschen bzw. mit seiner Hand. Wer auf diese Weise noch nicht mit seinen Ratten gespielt hat, sollte es unbedingt mal ausprobieren. Dazu entsprechend der Spielaufforderung auf Rattenart einfach mal etwas liebevoll im Nacken wuscheln. Wenn dies mit Luftsprüngen quittiert und die eigene Hand in einen Ringkampf verwickelt wird, erlebt nicht nur selbst Spielspaß, sondern genießt auch einen großen Vertrauensbeweis seiner Ratten.
Quellen:
Bekoff, Marc; Pierce, Jessica (2011): Vom Mitgefühl der Tiere. Verliebte Eisbären, gerechte Wölfe und trauernde Elefanten. 1. Aufl. Stuttgart: Kosmos.
Gattermann, Rolf (2006): Wörterbuch zur Verhaltensbiologie der Tiere und des Menschen. 2. Aufl. München: Elsevier, Spektrum Akad. Verl.
Lambert, Kelly (2011): The lab rat chronicles. A neuroscientist reveals life lessons from the planet's most successful mammals. 1st ed. New York: Penguin.
Meaney, Michael J.; Stewart, Jane (1981): A descriptive study of social development in the rat (Rattus norvegicus). In: Animal Behaviour 29 (1), S. 34-45.
Panksepp, Jaak; Burgdorf, Jeff (2003): "Laughing" rats and the evolutionary antecedents of human joy? In: A Tribute to Paul MacLean: The Neurobiological Relevance of Social Behavior 79 (3), S. 533-547.
Pellis, Sergio M.; Pellis, Vivien C. (1987): Play-fighting differs from serious fighting in both target of attack and tactics of fighting in the laboratory rat Rattus norvegicus. In: Aggr. Behav. 13 (4), S. 227-242.
Pellis, Sergio M.; Field, Evelyn F.; Smith, Lori K.; Pellis, Vivien C. (1997): Multiple Differences in the Play Fighting of Male and Female Rats. Implications for the Causes and Functions of Play. In: Neuroscience & Biobehavioral Reviews 21 (1), S. 105-120.
Pells, Serlio M.; Pells, Vivien C.; McKenna, Mario M. (1993): Some subordinates are more equal than others: Play fighting amongst adult subordinate male rats. In: Aggr. Behav. 19 (5), S. 385-393.
Spinka, Marek; Newberry, Ruth C.; Bekoff, Marc (2001): Mammalian Play: Training for the Unexpected. In: Quarterly Review of Biology 76 (2), S. 141-168.
Vanderschuren, Louk J. M. J.; Niesink, Raymond J. M.; van Pee, Jan M. (1997): The neurobiology of social play behavior in rats. In: Neuroscience & Biobehavioral Reviews 21 (3), S. 309-326.
Wenn man Rattenfreunde fragt, was sie an den kleinen Nagern so sehr mögen, wird ganz häufig ihre Intelligenz genannt. Sogar Menschen die Ratten ganz und gar nicht mögen, ringen sich ein "...aber intelligent!" ab. Wenn ich meine Jungs im Auslauf dabei beobachte wie sie sich an Futterbeschäftigungen versuchen, sieht ihre Problemlösungsstrategie allerdings nicht sehr intelligent aus. Sie probieren viel herum und sind damit am Ende erfolgreich. Sie scheinen jedoch keine Idee von Ursache und Wirkung zu haben oder können gar bestimmte Mechanismen durchschauen. Allein das Intelligenzspielzeug anders hinzustellen führt dazu, dass sie neu probieren müssen, um es zu öffnen.
Evolutionär betrachtet ist das sinnvoll. Anstatt in ein komplexes Gehirn zu investieren, was immer auch viel Energie benötigt, wurden Ratten mit einem ebenso einfachen wie genialen "Programm" ausgestattet: Hartnäckigkeit.
Rattenhalter kennen diese Eigenschaft sehr gut bei ihren Tieren (meist wenn es darum geht, Auslaufbegrenzungen zu überwinden oder Nagearbeiten an der Tapete zu vollenden). Als Art sind Ratten damit wie wir wissen enorm erfolgreich.
Was aber ist dran an der "klugen Ratte" und was ist Intelligenz?
"Keine Intelligenzbestie" oder "Das Märchen von der hochintelligenten Ratte" titelte vor einigen Jahren die überregionale Tageszeitung DIE WELT. In den Artikeln wurde erläutert, weshalb es so schwer sei, wilde Ratten zu fangen und dass ihre Vorsicht allein sie noch nicht intelligenter als andere Tiere machen würde. Scheinbar ist vor allem dieser Umstand des schlecht fangen und bekämpfen Könnens, welcher wohl zu einer magischen Verkärung von Ratten führte. Dabei liegt es nicht an ihrer Intelligenz, sondern an ihren Fähigkeiten, weshalb Ratten verhältnismäßig schlecht Gifte aufnehmen. Jede Ratte kann aufgrund ihres hervorragenden Geruchssinnes an ihren Artgenossen riechen, was diese zuletzt gefressen haben. Neben dem, was Ratten also schon von ihren Müttern an Nahrung kennen, können sie sich so durch soziales Lernen relativ gefahrlos neue Nahrungsquellen erschließen, die sie ohne diese Kenntnis eher meiden würden. Zudem können sie schnell eine Verbindung zwischen Gegessenem und eigenem Wohlbefinden ziehen. Vielfach werden zunächst kleine Mengen des unbekannten Futters gegessen und anschließend abgewartet, wie es ihnen bekommt. Bei Ratten gibt es übrigens keine Tiere, die vom Rudel als sog. "Vorkoster" eingesetzt werden. Jedes Tier lernt von anderen Ratten, die entweder besonders mutig oder leichtsinnig sind. Dabei sind Ratten mit Ernährungsdefiziten risikofreudiger. Gut genährte Tiere dagegen bleiben Neuem gegenüber kritischer.
Die große Vorsicht gegenüber neuem Futter sowie das soziale Lernen diesbezüglich wurde vor allem durch eine vom Menschen verursachten Mini-Evolution forciert. Während leichtfertige Naschratten eher Rattengiften zum Opfer fielen, konnten die vorsichtigen Verwandten ihre Charaktereigenschaft an ihre Nachkommen weitergeben.
Eine verbindliche oder einheitliche Definition von Intelligenz gibt es nicht. Auf der wissenschaftlichen Seite vermeidet man ihn deshalb lieber, weil nur etwas untersucht und nachgewiesen werden kann, was auch definierbar ist. Das Gehirn und seine Prozesse und Leistungen geben tatsächlich noch viele Rätsel auf. In der Kognitionsforschung versucht man hier Licht ins Dunkel zu bringen. In dieser wissenschaftlichen Querschnittsdisziplin werden alle Fragen der Informationsgewinnung und Informationsverarbeitung bei menschlichen und nichtmenschlichen Tieren untersucht. Ob etwas als intelligent zu bezeichnen ist, wird dagegenüberwiegend abseits der Wissenschaft entschieden. Nur in Bezug auf den Menschen haben sich schon früh Intelligenztests entwickelt, die sich bei genauerem Hinsehen und mit zunehmender Kenntnis allerdings als "wenig intelligent" herausgestellt haben. Und die Probleme der Übertragbarkeit für die Nachweisbarkeit bei Tieren bleiben bestehen.
Das Wort Intelligenz leitet sich aus dem lateinischen inter "zwischen" und legere "lesen, wählen" ab. Intelligenz ist "die Fähigkeit, Wahrnehmungsinhalte und Gedächtnisspuren auf gegenstands- und problemgerechte Weise neu zu kombinieren und gegebenenfalls entsprechend zu verknüpfen. Intelligentes Handeln ist also das Wählen zwischen und das Entdecken neuer Möglichkeiten. Notwendig hierfür sind Wahrnehmung (Sinnesleistungen) und Gedächtnis (Gehirnleistung).
Ratten nehmen ihre Umwelt nicht wie wir Menschen war. So hören und kommunizieren sie zum Teil im für uns nicht hörbaren Ultraschallbereich. Dennoch können sie natürlich auch uns hören und auf Kommandos reagieren. Sie erkennen "ihren" Menschen an der Stimme und können sogar Sprachen unterscheiden.
Der Geruchssinn der Ratten ist sicher der schärfste aller Rattensinne. Ratten haben mehr Geruchsrezeptoren als Hunde und können Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Rang und genetische Verwandtschaft an ihren Artgenossen riechen und Individuen identifizieren. Bei einer duftenden Futterquelle können sie orten, aus welcher Richtung genau der Geruch kommt. Menschen nutzen diese Fähigkeit und setzten Ratten als "Spürhunde" ein oder erproben ihren Einsatz, um Krankheiten beim Menschen festzustellen. Über unzählige eigene Drüsen kommunizieren Ratten auch mit ihren Artgenossen.
Ein ebenso wichtiger Sinn ist das Fühlen. Die Tasthaare einer Ratte sind extrem empfindlich und vergleichbar mit der Empfindlichkeit unserer Fingerspitzen. Sie können ihre Vibrissen in unterschiedliche Richtungen bewegen, verschiedene Oberflächen unterscheiden und auch Vibrationen spüren. Tasthaare sind für Ratten fundamental wichtig, weshalb das absichtliche Verkrüppeln der Tasthaare bei einigen Züchtungen (Rex-Ratten, Nacktratten) tatsächlich nichts anderes als eine barbarische Verstümmelung darstellt, ähnlich, als würde man uns die Finger entfernen oder verkrüppeln.
Was wir Menschen als "Augentiere" dagegen immer wieder vergessen ist, dass Ratten gar nicht besonders gut sehen können. Ihr Bild ist 20mal unschärfer als das unsere und sie können zwar Farben wahrnehmen, die Unterscheidung fällt ihnen jedoch schwerer. Es muss jedoch beachtet werden, dass Rattenaugen extrem lichtempfindlich sind. Sie können feinste Helligkeitsunterschiede wahrnehmen und im Halbdunkel mehr erkennen als wir Menschen. Um nachhaltige Augenschäden zu vermeiden, wird für die Haltung von Ratten eine Beleuchtungsstärke von 400-500 lx empfohlen. Das entspricht einer normalen Zimmerbeleuchtung. Zum Vergleich: ein bedeckter Sommertag hat 20.000lx! Soviel zum Thema Ratten mit nach draußen nehmen und "die wollen sicher auch mal in die Sonne" - Ratten sind dämmerungs- und nachtaktive Tiere, deren Sinne sich auf diese Bedingungen eingestellt haben. Sie vermeiden nach Möglichkeit direkte Sonne und suchen sich sogar bei vermeintlich gemütlicher Wohnzimmerbeleuchtung noch Schattenplätze.
Viele Informationen, die Ratten aus ihrer Umwelt über ihre Sinne erhalten, sind nicht wichtig genug, um sie sich lange zu merken. Im Kurzzeitgedächtnis wird entschieden, ob die Information relevant genug ist, um sie im Langzeitgedächtnis dauerhafter abzulegen. Lernfähigkeit und Erinnerungsvermögen sind also weitere Grundlagen für intelligentes Verhalten. Dabei werden Informationen auf unterschiedlichen Wegen in unterschiedlichen Gehirnarealen gespeichert.
Unterteilt wird das Langzeitgedächtnis in das unbewusste Gedächtnis für Handlungen und das bewusste Gedächtnis für Fakten und Ereignisse. So werden zum Beispiel konditionierte Handlungen im unbewussten Gedächtnis abgelegt. Bei der Konditionierung wird ein Ereignis mit einem darauf folgenden Ereignis verknüpft bzw. in Zusammenhang gebracht. Die operante Konditionierung in Form von Klickertraining wird auch bei Rattenhaltern immer populärer und die Tricks die man Ratten beibringen kann, verblüffen Zuschauer immer wieder. Die Lerngeschwindigkeit bei der (operanten) Konditionierung wird in der Wissenschaft gerne als ein Maß für geistige Fähigkeiten herangezogen, über Intelligenz sagt jedoch weder die Konditionierung an sich noch die Lerngeschwindigkeit etwas aus. Genau wie mehr Wissen nicht zu mehr Intelligenz ührt, hat auch die Konditionierung nichts mit Intelligenz zu tun. Erst recht nicht, wenn man eingangs zitierte Definition heranzieht. Die Tiere brauchen Freiheitsgrade oder Wahlmöglichkeiten, um intelligente Entscheidungen zu treffen. Das bloße abspulen beigebrachter Verhaltenssequenzen aufgrund eines Reizes (ein Kommando oder Gegenstand) gehört nicht dazu. Darüber hinaus kann auch die Lernmotivation trotz hoher Intelligenz relativ niedrig sein kann. Raben zum Beispiel lassen sich sehr schwer konditionieren, fallen jedoch durch geistige Leistungen auf, die viele Sägetiere in den Schatten stellen. Gleiches gilt für Katzen, die in der Kognitionsforschung wegen ihrer nahezu störrischen Eigenwilligkeit regelrecht gemieden werden (ein Glück für die Katzen, möchte man hinzufügen!). Konditionierte Lerninhalte werden in einem Gehirnareal abgespeichert, welches man auch als emotionales Gedächtnis bezeichnet. Unabhängig von den "Tricks", die Menschen ihren Tieren beibringen können, sind Emotionen sicher die wichtigsten Entscheidungsgrundlagen für Rattenverhalten - und die Gefühlswelt der Ratten ist reich an Emotionen. Sind ihre Artgenossen in Bedrängnis, empfinden sie Mitleid und treffen sie eine falsche Entscheidung, bedauern sie diese. Ratten können Spaß und Glück empfinden und in tiefe Depressionen verfallen.
Im bewussten Langzeitgedächtnis werden unter anderem Ereignisse gespeichert, die sich an das eigene Erleben knüpfen. Das Abrufen solchen selbst erlebten Wissens kann für zukünftige Handlungen extrem vorteilhaft sein. Nach neusten Annahmen geht man davon aus, dass sich Ratten nicht erinnern, wann sie wo etwas erlebt haben, um Schlussfolgerungen für die Zukunft zu treffen. Sie nutzen dafür vielmehr die Intensität ihrer Erinnerung. Bei einer starken Erinnerung ist wenig Zeit vergangen, bei einer schwachen Erinnerung ist viel Zeit vergangen. Damit wissen sie, wann Oma wieder in den Park zum Entenfüttern kommt oder der Gurkenschäler von der Arbeit.
Und wie lange erinnern sich Ratten an das Erlernte? Einige Wochen? Einige Monate oder ihr ganzes Leben lang? Man weiß es nicht - und es kommt darauf an. Klar ist, Emotionen bleiben länger im Gedächtnis als Erlebnisse und als "Nasentiere" sind Ratten für geruchliche Erinnerungen sicher besonders empfänglich. Der olfaktorische Cortex gilt als das ursprüngliche emotionale Zentrum des Gehirns und hat sich vermutlich schon vor dem Hören und Sehen entwickelt. Man weiß nur, dass junge Ratten besser lernen als alte, glückliche Ratten besser als unglückliche und je regelmäßiger und länger die Tiere Erlerntes anwenden müssen, desto länger erinnern sie sich.
Ein anderer Ansatz, Intelligenz zu messen, war und ist das Vermessen des Gehirns. Es wird sein Volumen bestimmt, sein Gewicht gemessen und die Masse in Relation zur Körpergröße gesetzt. Ist das absolute Gewicht entscheidend oder das Verhältnis des Gewichts zur Körpergröße? Für alle Annahmen gibt es Belege und für alle Belege dutzende Ausnahmen.
Mit all diesen Ausführungen zu den kognitiven Fähigkeiten der Ratte kommen wir ihrer Intelligenz nicht auf die Spur. Wir müssen feststellen, dass wir die Intelligenz bei Tieren eigentlich weder richtig verstehen noch richtig untersuchen, geschweige denn definieren und messen können. Es spricht jedoch viel dafür, dass es sich bei der bewunderten Rattenintelligenz eigentlich vielmehr um arttypische Charaktereigenschaften und Fähigkeiten handelt.
Der Ratte, mit ihrem 2 Gramm schweren Gehirn, kann es egal sein. Sie ist als Individuum und als Spezies absolut perfekt. Sie hat genau die richtigen Eigenschaften und Fähigkeiten, um in ihrer Welt bestehen zu können. Sie ist an den richtigen Stellen neugierig und bei den entscheidenden Punkten äußerst vorsichtig. Sie verfolgt ihre Interessen sehr hartnäckig. Sie kann sich für sie Relevantes merken und hat ein reiches Sozialverhalten - und sie mag es, mit ihrem Menschen zu interagieren.
Sie ist perfekt, genau so wie sie ist.
Lesetipp:
Burn, Charlotte C. (2008): What is it like to be a rat? Rat sensory perception and its implications for experimental design and rat welfare. In: Applied Animal Behaviour Science 112 (1–2), S. 1–32. DOI: 10.1016/j.applanim.2008.02.007.